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Osterlauf

In Paderborn, in der Nähe meiner Heimatstadt, gibt es regelmäßig zu Ostern eine Laufveranstaltung. Der Osterlauf ist der älteste Lauf Deutschlands. Lohnt sich. Sollte man sich mal angucken, das Spektakel. Wollte ich eigentlich auch machen, allerdings hatte mir das Schicksal eine andere Rolle zugedacht.


Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber in diesem Jahr stehe ich auf der Teilnehmerliste. Da ich mich nicht erinnern kann, mich angemeldet zu haben, kann das nur in einer Situation passiert sein, in welcher der alkoholbedingte Blackout schon eingetreten war. Dass ich den Lauf nicht verpasste, verdanke ich der Digitalisierung, denn einen Tag vor der Veranstaltung erhielt ich per Mail die letzten heißen Infos. „Ach“, denke ich. „Ist ja ein Dingen.“ Ich schaue auf mein Bankkonto. Da ist eine Abbuchung. Bezahlt ist also auch schon. Kein Weg zurück. Fünf Kilometer sollen es sein. So viel, dass es gerade nicht peinlich ist und ich nicht – wie bei zehn Kilometern – direkt mit Zieleinlauf dem Sensenmann gegenübertrete. Piep, der Chip registriert meinen Zieleinlauf, tot. Ich bin froh, dass ich mich nicht in meinem damaligen mir immer noch unbegreiflichen Wahnsinn für den Halbmarathon angemeldet hatte.


Fünf Kilometer. Ich bin kein regelmäßiger Läufer. Eher so die, ab und an mal die 500 Meter zum Bäcker und danach zwei Tage Pause wegen höllischem Muskelkater-Fraktion. Aber fünf Kilometer. Einmal sollte das drin sein. Außerdem, dabei sein ist alles. Was ich weiß ist, dass es auf die Ernährung ankommt. Fix googeln, ich werde schnell fündig. Kohlenhydrate, Müsli, viel trinken, Eier, Nüsse. Kein Thema. Ich habe ja noch 24 Stunden und gehe erst einmal einkaufen.


Mein Einkaufswagen im Supermarkt ist prall gefüllt. Nur gesunde Sachen, was mir einen anerkennenden Blick der Verkäuferin einbringt. „Ach wissen Sie, ich nehme morgen am Osterlauf teil. Fünfer, so zum reinkommen“, sage ich und die Verkäuferin nickt erneut anerkennend. Aber vielleicht auch etwas spöttisch, wie ich zweifelnd feststelle. Dann sagt sie: „Ich laufe den Halbmarathon. Wollen Sie das alles bis morgen essen?“ Ich schweige verbissen, packe die Sachen zurück in den Wagen und murmele ein: „Ne, die nächsten Tage sind ja Feiertag und Ihr Laden hat zu. Tschüss.“ Ich verlasse den Supermarkt.


Am nächsten Morgen esse ich die letzten Reste des Nudelauflaufs, den ich mir gestern Abend noch gemacht habe. Dazu gibt es ein durch Joghurtkulturen gestrecktes Müsli, diverse Müsliriegel mit und ohne Schokolade, Omelette, eine Kanne Kaffee und vier Liter Wasser. Als ich das Gelände des Laufs betrete, fühle ich mich enorm gut. Nicht nur die fünf Kilometer sind drin, auch die Top Ten. Das ist also dieses Adrenalin, von dem alle Wettkämpfer immer sprechen. Schön, dich kennenzulernen.


Über 2.700 Menschen wollen die fünf Kilometer ebenso wie ich laufen. Ich schaue mir meine Laufnachbarn an. Sozialstudien sind eine Schwäche von mir. Da gibt es den Typ Poser. Top ausgestattet. Markenschuhe, stylische Markenläuferklamotten mit einem streifigen Designmuster auf grünem Grund. Atmungsaktiv, da bin ich mir sicher. Kein Baumwollshirt mit Feinripp darunter, wie ich es traditionell trage. Da es mich interessiert, ziehe ich ihm kurzerhand die Hose herunter. Stylisch. Streifenmuster. Passend zum Shirt. „Na immerhin nur weiße Streifen“, sage ich. Wenn Blicke töten könnten. Ich zeige auf seine Boxershorts. „Deine Markenhose meine ich.“ Der Mann zieht seine Sporthose wieder hoch und reihte sich weiter vorne ein. „Geh mit Gott, aber geh“, rufe ich ihm hinterher.


Neben mir unterhalten sich ein Mann und eine Frau. Er: „Ich mache das ja nur zum Warm up für den zehn Kilometerlauf eine Stunde später.“ Ich verdrehe die Augen. Typ Helikopter-Sportler. Eine andere Frau versucht es witzig. „Müssen wir an den roten Ampeln warten?“ Ein Mann antwortet: „Hauptsache, wir kommen durch.“ Typ Ich gehöre auf die Bühne wurde aber nie entdeckt und Typ dabei sein ist alles. Der letzte Kommentargeber bin ich. Ich könnte in diesem Mikrokosmos Läuferschlange noch endlos weitermachen, doch es wird Zeit, mich zu fokussieren. Ein leichtes Grummeln entwickelt sich in meiner Magengegend. Gut denke ich, der Motor springt genau zur richtigen Zeit an.


Die Läuferschlange wandert in Richtung des Start- und Zielbereichs. Auch so eine Gruppendynamik. Einer wandert los, alle anderen wandern mit. Ich bin mittig positioniert. Schließlich will ich noch den einen oder anderen überholen. Es knallt. Ich erschrecke mich fürchterlich und gehe in die Hocke. Die Hände über den Kopf. Ein Anschlag? Jetzt? Dann stelle ich fest, dass um mich herum alle loslaufen. Muss also der Startschuss gewesen sein. Also tue ich so, als würde ich meine Schuhe zubinden. Ein Mann springt über mich drüber. „Poser“, denke ich und erhebe mich. Ich schaue nach links und nach rechts. Viel ist nicht mehr hinter mir. Da läuft sogar eine Oma mit Rollator mit. Mitte 80 würde ich sagen. Süß denke ich. Wann kommt die an? Egal, keine Zeit für Emotionen. Ich laufe los.

Erste Kurve. 200 Meter sind geschafft. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Aber ich fühle mich gut, heißt, ich komme vorwärts. Die Stimmung am Rand ist gut. Die Leute klatschen und applaudieren. Dazu stehen dort ein paar People, die trommeln. Finde ich megagut. Sehr motivierend. Ich laufe weiter.


600 Meter. Ich überlege aufzuhören. Schließlich bin ich schon mehr gelaufen als sonst zum Bäcker. Das Grummeln in meinem Magen nimmt zu. Auch der Darm regt sich. Ich laufe weiter.


Ein Kilometer. Ich atme hochtourig. Könnte ich Asthma haben? Ist nur mir so heiß oder allen anderen auch? Meine noch verbliebenen Laufnachbarn starren eisern nach vorne. Eine Kommunikation über die plötzliche Hitze des Moments und den möglicherweise dafür verantwortlichen Klimawandel scheint nicht möglich. Da, die Dame mit Rollator klingelt und droht rechts an mir vorbeizuziehen. Soweit kommt es noch. Ich setze mich vorne auf die Taschenablage des Rollators und sage „Danke. Sie schickt der Himmel. Ich stecke gerade in einem Leistungsloch. Vielleicht könnten Sie…“ Zu mehr komme ich nicht. Die Oma bremst.

Die physikalische Wucht dieser Handlung reißt mich nach vorne. Ich falle auf die Knie, nehme den Schwung mit und rollte mich ab. Die Oma rollt lachend an mir vorbei. Das kann ich mir nicht bieten lassen. Ich springe auf. Schimpfe Wörter, die ich hier nicht wiedergeben möchte in Richtung der Hexe und laufe wieder an ihr vorbei. Meinem Magen-Darmtrakt hat der Sturz nicht gut getan. Es blubbert bedenklich und das ist nicht nur meine Wut über diese Frechheit von gerade. Ich laufe weiter.


1,7 Kilometer. Mein Magen krampft, der Darm auch. Ich kämpfe wie ein Irrer, aber die Gase müssen raus. Ich stemme meine Hände auf die Knie, nehme eine gebeugte Haltung ein, was mir den einen oder anderen verwunderten Blick meiner immer weniger werdenden Nebenläufer einbringt, und lasse den Dingen ihren Lauf. Die nächsten 600 Meter bin ich ungestört für mich. Eine wichtige Phase wie ich finde. Zeit, mich zu besinnen und darüber nachzudenken, wie ich die noch vor mir liegenden Kilometer angehen möchte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kommen mir Läufer entgegen. Muss ein anderer Lauf sein, beruhige ich mich. Gab es vor dem fünf Kilometerlauf schon einen? Wenn ich ehrlich zu mir bin, nein. Ich schiebe den Gedanken zur Seite. Angeber, Poser. So willst du eh nicht enden. Ich laufe weiter.

2,5 Kilometer. Der erste Verpflegungsstand. Vom Gefühl her so, wie die Fata Morgana in der Wüste. Meine Zunge klebt mir trocken am Gaumen. Ich habe jetzt einen Krampf in der Wade. Viel trinken hatte ich nachgelesen. Ich räume die erste Reihe an Getränkebechern ab und schütte alles in mich hinein. Ich laufe weiter.


Drei Kilometer. Ich muss pinkeln und mein Handy klingelt. Mutter ruft an. Ich halte es mir ans Ohr. „Hä?“ japse ich in das Telefon. Sie fragt, wie es mir geht und was ich gerade mache. Warum ich mich so selten melde und ob ich nicht morgen zum Osterfrühstück vorbei kommen möchte. Sie würde auch etwas für mich verstecken. Eier und Schokolade. So wie früher. „Hä?“ japse ich abermals. A fällt mir nichts dazu ein und B hat sie die Schokolade früher immer schon alleine aufgefressen. Gefunden habe ich dann im Müll immer nur die leeren Verpackungsreste. Frohe Ostern. Ob ich vorher die Brötchen einkaufen und mitbringen könnte, fragt meine Mutter weiter. Ich grunze und sage: „Mutterichkanngeradenichtbinamlaufenundsterbengleichzeitigdranne,erzähleichdirmalspätervielleichtmorgen“ und lege auf. Ich muss immer noch pinkeln, doch überall am Rand stehen Leute. Ich laufe weiter.


3,3 Kilometer. Hinter mir klingelt es. Die Oma mit dem Rollator ist mir wieder dich auf den Fersen. Wusste ich doch, eine Hexe. Die muss irgendwo einen Besen haben. Obwohl sämtliche Fasern meines Körpers zu explodieren drohen, verändere ich meinen Laufstil. Vornübergebeugt wie ein Büffel, gehe ich sabbernd die letzten zwei Kilometer an. Nebenbei versorge ich den bis dato ausgetrockneten Straßenrand mit einem Schwall aus Schweißwasser. Wenn es der Natur hilft, gerne. Da ich eh komplett nassgeschwitzt bin, kann ich so auch mein Pinkelproblem lösen. Wie die Jungs bei der Tour de France, denke ich. Einfach laufen lassen. Nicht so einfach in Bewegung, aber wo ein Wille ist. Ich bin erleichtert und laufe weiter.


Vier Kilometer. Ich nähere mich dem Start- und Zielbereich. Hinter mir vernehme ich ein Rauschen. Die Kehrmaschine? Kann eigentlich noch nicht sein. Ich drehe mich um und sehe eine größer werdende Wand aus vielen kleinen Beinen und Füßen. Der Grundschullauf ist gestartet – und er ist hinter mir her. Jetzt heißt es noch einmal alles geben. Ich laufe weiter.


4,2 Kilometer. Die Teilnehmer des Grundschullaufs holen auf, obwohl ich wirklich alles reinlege. Die müssen ja auch viel weniger rennen, verdammt! Sie laufen nur einmal durch den Start- und Zielbereich und eine kleine Schleife dazu. Habe ich gestern extra noch nachgelesen. Ich konnte mich aber nicht mehr ummelden. Einen Kilometer laufen die Blagen. Unfair. Ich schaue mich immer wieder um. Sie kommen näher. Zum Glück ist die Oma mit ihrem Rollator nicht mehr da. Entweder musste die Hexe zu einem Einsatz oder sie ist mit ihrem Besen bereits über die Ziellinie geflogen. Werde ich gleich sehen. Ich laufe weiter.


4,5 Kilometer. Ein kleiner Rotzlöffel aus dem Grundschullauf überholt mich. Gekleidet in Markenschuhen und stylischer Markenlaufkleidung. Streifiges Design auf grünem Grund. Ich kann mir schon denken, wer sein Vater ist und was der Junge für eine Boxershorts trägt. Irgendetwas an der Art, wie er mich überholt, provoziert mich. Vielleicht ist es der lachende Blick und die herausgestreckte Zunge, als er an mir vorbeifliegt. Na warte. Ich laufe weiter.


4,8 Kilometer. Ich bin mit dem kleinen Dreckssack auf Augenhöhe. Das könnte ein Fotofinish werden. Ich laufe weiter.


4,9 Kilometer. Jetzt wird es wirklich eng. Der Junge ist um Haaresbreite vor mir. Ich laufe weiter.


4,98 Kilometer. Ich komme nicht an ihn heran. Täusche ich mich, oder läuft er nur so schnell, wie er gerade muss, um vor mir zu bleiben? Zeit, es auf die alte Art zu regeln. Fußball, Schulhof, Straßenkind, wenn ihr versteht. Ich setze zur Blutgrätsche an und hole den Jungen von den Beinen. Natürlich liege auch ich dadurch auf dem Boden, doch ich muss nur meinen Arm ausstrecken und bin über der Ziellinie. Ich wuchte meinen Körper mit einem letzten wahnsinnigen Kraftakt über die Linie. Piep. Mein Chip ist registriert. Erster. Das kann mir keiner mehr nehmen. Ich drehe mich auf den Rücken und schaue in den Himmel voller Geigen und Sterne.


Es klingelt. Die Hexe rollt mir mit ihrem Rollator über die Hand. Das hat die doch extra gemacht. Ich springe mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und suche nach einem Ordner, doch der hat der Oma bereits liebevoll eine Hand auf die Schulter gelegt und hängt ihr eine Medaille um. Leute am Straßenrand applaudieren der Frau zu. Falsche Schlange, denke ich.

Erst jetzt humpelt auch der Junge über die Ziellinie. Er heult. Wusste ich doch, dass hinter den Markenklamotten nicht viel steckt. „Lass dir das eine Lehre sein Junge. Dir und deinem Vater. Nur die Kleidung reicht nicht. Du brauchst auch die Mentalität, um ein Gewinner zu sein. Ansonsten ist dabei sein halt alles“, sage ich und biete ihm gönnerhaft meine Hand an, um mit ihm abzuklatschen.


Ich bin ein Freund davon, dass man nach dem Abpfiff einen normalen Umgang miteinander pflegen sollte. Während des Wettkampfes knallhart. Aber nachtreten, dann wenn alles vorbei ist, das hat keinen Stil. Er ignoriert mich und rennt heulend zu seinem Vater, der mir – immer noch in seinen Designerklamotten eingepackt – mit den Fäusten droht und auf mich zugeht. Ich drehe mich um, schüttele den Kopf und verlasse schnell den Start- Zielbereich. Einem Ordner reiße ich die Medaille aus der Hand, dann tauche ich in der Menge unter. Manche lernen es eben nie.


Am Abend sitze ich zuhause auf meinem Sofa und scrolle im Handy. Viel mehr Bewegung ist nicht möglich. Meine Beine sind steif. Aber, das Adrenalin wirkt noch immer nach. Ich spüre keinen Schmerz. Mich umrahmt das bescheidene Licht einer Vitrine, die über mir an der Wand hängt. Dort habe ich meine Osterlaufmedaille drapiert. Hinter der Medaille steht, befestigt an einer kleinen Halterung, die Urkunde, die ich mir bereits wenige Stunden nach dem Lauf herunterladen und ausdrucken konnte.


Im Handy suche ich nach weiteren Läufen. Wenn einen der Ehrgeiz packt. In vier Wochen. Nachbarkommune. 5,5 Kilometer. Ich melde mich an. 500 Meter mehr drauf als jetzt. Schaffe ich. Ist ja nur einmal mehr zum Bäcker und ob der Mann, der Rotzlöffel und die Hexe bis dahin schon wieder fit sind. Na, da habe ich meine Zweifel. Ich packe das schon.


Ich weiß ja jetzt, wie es geht.

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