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Großeinsatz

Ich habe letztens einen Großeinsatz ausgelöst. Mitten in Frankfurt im Bankenviertel. Folgendes war passiert.


Ich stieg in einen Bus und setzte mich neben einen etwa 20 Jahre alten männlichen Fahrgast. Vielleicht war er auch 25? Vielleicht war er auch eine Frau, mit zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren? Ich weiß es nicht. Ist für den weiteren Verlauf der Geschehnisse auch egal. Soll jedes Lebewesen machen, wie er, sie, es möchte. Alles tutti. Einigen wir uns einfach darauf, dass es eine Person war, wie sie heutzutage in Bussen und U-Bahnen immer öfter zu sehen ist. Stöpsel im Ohr, Handy in der Hand. Starrer Blick nach unten. Keinen Bock nach links oder rechts zu schauen.


Ich hatte keine Stöpsel im Ohr und kein Handy in der Hand. Weil alle in der gleichen Haltung da saßen und ich somit mit niemandem – selbst non-verbal nicht – kommunizieren konnte, langweilte ich mich. Ich hätte jetzt mein eigenes Handy herausholen können. Aber nö, ich war schon als Kind ein Rebell. Warum sollte ich es so machen, wie die anderen? Wenn niemand mit Stöpsel im Ohr und Handy in der Hand im Bus gesessen hätte, dann hätte ich das getan. Aber so jetzt war mir das zu blöd.


Die Folge war, dass ich mich weiter langweilte und damit begann, mit meinen Beinen zu wippeln. Meine Frau stört das. Sie legt mir dann immer die Hand auf den Oberschenkel, als non-verbales Zeichen, dass ich aufhören soll. Verstehe ich. Und mache dann doch weiter. Rebell-Power, Leute. Im Bus interessierte das niemanden und meine Frau war nicht da. Als meine Langeweile unerträglich wurde, stieß ich die Person neben mir sanft mit dem Ellenbogen an und sagte: „Hallo.“ Was dann folgte, überraschte und faszinierte mich zutiefst.


Die Person neben mir sprang wie von einer Schlange in den Hintern gebissen auf, fasste sich augenblicklich an die Brust und taumelte nach vorne zum Busfahrer. Talentiert dachte ich. Doch dann übertrieb mein Sitznachbar es mit seinem Schauspiel deutlich. Er griff dem Busfahrer panisch ins Lenkrad, stellte den Bus quer und fiel dann zu Boden. Ohnmacht. Ich konnte aus dem Fenster sehen, wie sämtliche Fahrzeuge, hinter, vor und neben dem Bus quietschend zum Stehen kamen. Da sag noch einer das Luxuskarossen keine guten Bremsen haben, dachte ich anerkennend. Das rechtfertigt den Preis.


Die Fahrer zumeist männlich, stiegen aus und fuhren sich mit den Händen durch die Haare. Andere hielten direkt ihre Handys drauf, da sie diese wahrscheinlich schon am Steuer in der Hand gehalten hatten. Macht man nicht. Thema Ablenkung im Straßenverkehr. Kann böse enden. Auch im Bus hatte der eine oder andere, aufgeschreckt durch die ruckartige Drehung des Busses, sein Handy ebenfalls in Richtung der ohnmächtigen Person geschwenkt. Finde ich asozial solch ein Verhalten. Also stand ich auf und baute mich mitten im Gang auf, wohlwissend, dass meine körperliche Masse ausreichen sollte, um die Blickrichtung erst einmal zu verstellen. Genervtes Gemurmel hinter mir. Aber, ich langweilte mich nicht mehr. Der Busfahrer beugte mittlerweile über dem immer noch ohnmächtigen Fahrgast. „Er lebt noch! Er atmet!“, presse er hervor. „Ich rufe den Notarzt.“ Wow, dachte ich. Eine Szene, wie aus einer New Yorker Arztserie. Zwischen den Häuserschluchten steht ein Bus quer. Nebelschwaden steigt aus den Gullideckeln auf. Taxis hupen. Und ein Mann behält den Überblick. Er ruft den Notarzt. Der Busfahrer. Müsste man filmen, dachte ich. Finde ich aber asozial und ließ es.


Plötzlich, ein beißender Geruch durchströmte meine Nase. Ich hörte in mich hinein. Mein letzter Stuhlgang war noch nicht lange her. Von mir war der nicht. Ich schaute nach rechts. Neben mir hatte sich ein weiterer Passagier auf einen Sitz gehockt. Er filmte die Situation, redete, war scheinbar in einer Live-Schalte und ziemlich aufgeregt. Ich beugte mich zu ihm und schob mich wie ein Erdmännchen von unten nach oben vor seine Kamera in sein Bild. Auch mit dem Blick eines Erdmännchens, also so richtig niedlich und frage dann: „Hast du gerade gefurzt?“ Der Mann sah mich mit aufgerissenen Augen an, dann senkte er sein Handy, schüttelte den Kopf und ging zurück auf die letzte Sitzbank. Asozial solch ein Verhalten.


Der Geruch war mittlerweile auch dem Busfahrer in die Nase gestiegen. Ehe ich die Situation aufklären konnte, zückte er sein Handy erneut. „Ein Giftgasanschlag! Hier stinkt es bestialisch und mir ist schon ganz schlecht. Kommen Sie schnell.“ Er legte auf. „Halten Sie das für nötig? Reicht es nicht, die Fenster aufzumachen?“, fragte ich und er schaute mich entgeistert an, öffnete aber immerhin die Türen des Busses. Da ertönten schon die ersten Martinshörner. Ich sah Polizei- und Notarztwagen auf den Bus zu rasen. Dicht gefolgt von der Feuerwehr, dem FBI, CIA, KGB, Sponge Bob, ET und ein paar Chinesen, die aber erst einmal aus der Ferne beobachteten.

Die Rettungskräfte sprangen aus den Fahrzeugen. Die Polizei umstellte den Bus und baute Absperrgitter auf. Einige rannten in die umliegenden Hochhäuser und trieben die Menschen, gemeinsam mit den Sicherheitsdiensten, die bislang selbst mit ihren Handys gefilmt hatten, nach draußen. Frauen in Kleidern, Männer in Anzügen. Oder andersherum. Ist aber auch egal. Sollen alle machen, wie sie wollen. Einigen wir uns auf das, was alle vereinte. Stöpsel in den Ohren und mindestens ein Handy in der Hand.


Ein Trupp Feuerwehrmänner in ABC-Abwehrmontur stürmte in den Bus: „Alle raus, schnell, schnell.“ Ich trat nach draußen auf die Straße und atmete die frische Luft. Über dem Bankenviertel kreisten Hubschrauber. Die Polizei hatte die Menschen mittlerweile hinter die Absperrgitter zurückgedrängt. Auch die Autos um den Bus herum waren verlassen, teilweise standen Türen offen.


Sponge Bob gesellte sich neben mich. Er weinte Tränenbäche. ET hatte seinen leuchtenden Finger in meine Richtung ausgestreckt und wollte nach Hause telefonieren. „Ist gerade schlecht“, sagte ich. „In solch einer Situation sollte man sein Handy nicht zücken. Aber, kleiner Schrumpelalien, frag doch mal die Gruppe da vorne.“ Ich zeigte auf Banker hinter einer Absperrung. „Die filmen schon die ganze Zeit. Ich finde das asozial.“ ET bedankte sich und ging in Richtung der Banker. Zwanzig Meter weiter stritten sich das FBI und die CIA um die Zuständigkeit, während ein deutscher Polizeibeamter nicht zu Wort kam. Nicht weit davon entfernt, steckten der KGB und die Chinesen verdächtig ihre Köpfe zusammen. Welch Szenerie. Müsste man filmen, dachte ich. Finde ich aber asozial und lies es.


Ich schaute zu den gläsernen Hochhäusern der Banken in diesem Viertel hinauf. Besonders das Flackern der Blaulichter und die Reflektionen in den Glasfassaden hatten es mir angetan. Kunst par excellence. Ansonsten fragte ich mich, wofür stehen die Gebäude heute? Warum das ganze Glas? Um zu zeigen, wir sind transparent? Vielen Dank, dass ich einem Mitarbeiter XY oder einer Mitarbeiterin YZ auf den unaufgeräumten Schreibtisch gucken kann. Ah, Sie hatten heute Morgen schon einen Kaffee und zum Mittag gab es chinesisch? Aber wie war das noch gleich mit den Derivaten, Zinsen, der weltpolitischen Lage, Inflation, Fonds, Aktien, Hebeln, Panama Papers und den Gebühren?

Keine Ahnung. Früher waren die Türme ein Zeichen von Macht und Einfluss. Männlich, Phallussymbol. Hoch und steif reckt sich das Bollwerk in den Himmel. Ich habe den Größten und Längsten, also auch die besten Anlagepapiere und -berater. Man möchte sich daran reiben. Aus heutiger Sicht würde mich mal interessieren, wie Frauen die Gebäude gebaut hätten, wenn sie damals schon in den Chefetagen gesessen hätten. Kopfkino. Braucht man die Türme so überhaupt noch? Außer zu Werbezwecken als Skyline für die Stadt Frankfurt, das deutsche Mainhatten.


Heutzutage ist doch jeder irgendwie seine eigene kleine Bank zuhause. Modern Times. Digitalisierung und so. Aber, die Türme stehen halt. Kannste ja auch nicht eben einen Tante Emma-Laden reinsetzen. Wohnungen vielleicht. Würde einigen Menschen helfen. Aber die Fassade ist halt komplett aus Glas. Kann je nach Bewohner schön sein, oder eben auch nicht. Komisch, welche Gedanken einem kommen, in solch einer Situation. Als ich wieder in Richtung des Busses ging, wurde der Fahrgast, der im Bus neben mir gesessen hatte, soeben auf eine Liege gelegt. Die Rettungssanitäter rollten ihn an mir vorbei, blieben dann aber kurz stehen, um ein Selfie mit dem immer noch heulenden Sponge Bob zu machen. Der Fahrgast hob den Kopf in meine Richtung. „Ist jetzt nicht so schlimm, oder?“, fragte ich ihn. „Ich meine, guck dich um. Der Aufwand dafür?“ Mein ehemaliger Sitznachbar lächelte: „Du hast mich angesprochen, oder?“ Ich nickte und fragte ihn: „Hast du mich also doch gesehen?“ Der Fahrgast strahlte über das ganze Gesicht: „Klar, aber mich nicht für dich interessiert. Aber jetzt bist du cool. Mein Kumpel saß mit im Bus. Der hat ganz viele Videos gemacht.“ – „Und gefurzt“, sage ich, was mein ehemaliger Sitznachbar aber ignorierte. Er sprach weiter: „Wenn ich die alle in mein Profil lade, explodiert das Ding. Kannst du eben noch ein Foto von mir machen? Im Krankenwagen wird das nichts mit dem Selfie.“ Er hielt mir sein Handy hin. Ich winkte ab: „Ne du, lass mal. Ich muss Sponge Bob trösten und ET dahinten hat gerade Stress mit den Bankern angefangen. Ich finde das Verhalten von dir auch asozial. Diese Sensationsgeilheit in den sozialen Medien ist nichts für mich.“ Mein ehemaliger Sitznachbar verschränkte enttäuscht und bockig die Arme. „Du bist von gestern, digga.“ Die Rettungssanitäter waren wieder bei ihm und schoben ihn in den Krankenwagen.


Plötzlich durchfuhr ein Ruck meinen Körper. Ich riss die Augen auf und stellte fest, dass ich noch immer im Bus saß. Neben mir der gleiche Sitznachbar. Der Bus hatte vor einer roten Ampel gebremst. War in ich vor Langeweile eingenickt? Wahrscheinlich kurz nachdem ich auf mein „Hallo“ zu dem Sitznachbarn keine Reaktion bekommen hatte. Er hatte mich einfach ignoriert und weiter auf sein Handy gestarrt. Finde ich asozial solch ein Verhalten.


Ich denke, dass darin eines der vielen Probleme der heutigen Gesellschaft liegt. Wir gucken uns nicht mehr an. Verharren und starren nur noch in eine surreale Unterhaltungswelt aus grellen, schnellen Bildern und Infos, die keine Infos mehr sind. Gemacht von Menschen, die austauschbar sind und eigentlich nichts mehr zu sagen haben. Aber wir denken, hey, das ist wichtig und vergessen die Realität.


Das sind die Momente, in denen ich den Satz von Oma vermisse: „Junge, starr da nicht so hin, wenn der Mann popelt. Das macht man nicht.“ Hat sie recht, die Oma. Macht man nicht. Aber wenigstens hat man damals irgendwohin geguckt, seine Umgebung wahrgenommen. Registriert, dass da noch andere Leute sind und sich für einen kurzen Moment mit ihnen beschäftigt, mit der Realität, so wie sie ist. Das fehlt heutzutage. Und das ist nicht gut. Das ist asozial.

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